EnglishThis content is
not available in
english
Menü

Schuld oder Verantwortung Ein Versuch, zu differenzieren

Montag, 09. September 2024
Advertorial

Über die Autorin

Zoë Schlär ist seit fast 20 Jahren Mediatorin und versteht sich als Übersetzerin in Konfliktsituationen – sowohl im Beruflichen als auch im Privaten. Zudem ist sie Ausbilderin für Mediation, Trainerin und Systemischer Businesscoach. Für Creme Guides schreibt sie über festgefahrene Situationen, neue Begegnungsräume und das gegenseitige Verstehen, um nachhaltige Veränderung zu erreichen.

In Konflikten tendieren viele von uns zu Schuldvorwürfen, oder ein oberflächliches „Sorry, tut mir leid“ geht über die Lippen, obwohl es nicht von Herzen kommt. Es gibt aber auch Menschen, die echte Verantwortung für ihr Verhalten übernehmen können. Was können wir von ihnen lernen?

Zwischen Vater und Tochter herrscht Funkstille. Seit ein paar Monaten haben sie keinen Kontakt – weder persönlich noch über den Chat. Vorläufiger Kontaktabbruch, ein Begriff, der sich leichter sagen lässt, als er sich anfühlt. Selma, Anfang dreißig, emanzipiert und eigenständig, fest in ihrem Leben verankert. Robert, in seinen späten Fünfzigern, voller Fürsorge und dem unbändigen Drang, sie auf den „richtigen“ Weg zu lenken. Was aus seiner Sicht Ratschläge waren, fühlte sich für sie wie ständige Kritik an. Einmal zu oft hatte er sich eingemischt, einmal zu viel war seine Sorge als Misstrauen missverstanden worden.

Und dann brach der Konflikt auf, wie ein Sturm, der sich lange zusammengebraut hat. „Du verstehst es nicht, Papa!“, hatte Selma gesagt, ihre Stimme voller Frust. Robert war erschüttert, unfähig zu begreifen, warum seine Fürsorge immer wieder auf Widerstand stößt. „Ich will doch nur, dass du nicht dieselben Fehler machst wie ich“, hatte er entgegnet. Doch was umsichtig gemeint war, traf sie wie ein Vorwurf. Die alte Leier: Du machst es falsch, ich helfe dir, es besser zu machen.

Schuld – ein Gefühl, das beide nun in sich tragen, doch keiner spricht es aus. Selma fühlt sich schuldig, weil sie den Kontakt abgebrochen hat, um Luft zum Atmen zu bekommen. War das übertrieben? Hat sie ihn verletzt? Und er? Robert fragt sich, ob er Schuld daran trägt, dass sie nun in der Stille verharren, getrennt durch unausgesprochene Worte und missverstandene Absichten. Hätte er sie loslassen müssen, ihr mehr vertrauen sollen?

Eine Situation, die viele von uns kennen: Für ihn bleibt sie das Kind, das er beschützen möchte. Für sie aber hat sich diese Rolle längst gewandelt. Sie will keine Fürsorge mehr, sondern Gleichberechtigung. Sie will keine Ratschläge, sondern Vertrauen in ihre Entscheidungen. Doch dieser Übergang ist für beide nicht leicht. Und in der Stille des Kontaktabbruchs wird deutlich, wie schwer es ist, nicht von Schuld zu sprechen. Der Gedanke der Schuld lähmt ihn. Robert traut sich nicht anzurufen und beruft sich auf ihren Wunsch nach Abstand. Selma geht es ähnlich, denn sie hat die Pause eingefordert, nun plagt sie ein schlechtes Gewissen.

Doch in dieser Pause liegt auch eine Chance. Manchmal braucht es Abstand, um Klarheit zu gewinnen. Manchmal ist es die Stille, die Raum schafft für neue Gedanken, für Reflexion und das Erkennen der eigenen Anteile. Robert beginnt zu verstehen, dass es nicht seine Aufgabe ist, Selma vor allem zu bewahren – auch wenn es ihm schwerfällt, loszulassen. Selma merkt, dass ihr der Abstand guttut und sie dadurch Robert selbstbewusst und auf Augenhöhe begegnen kann.

Es ist eine Pause, die ihnen beiden die Möglichkeit gibt, sich selbst und den anderen neu zu verstehen. Schuld? Darum geht es nicht, aber es geht darum, die Verantwortung dafür zu übernehmen, was die eigenen Worte beim Gegenüber ausgelöst haben und diese mit den eigenen Gefühlen in Einklang zu bringen.

Am Ende bleibt die Frage: Kann man Schuld vergeben, ohne dass Worte gewechselt wurden? Ich denke, ja. Denn wahre Nähe entsteht nicht nur im Gespräch, sondern oft auch im stillen Verstehen. Und wenn sie sich eines Tages wieder gegenübersitzen, wird nicht alles gelöst sein, aber es kann ein Neustart werden – einer, der auf Vertrauen statt auf Schuld basiert.

Weitere interessante Artikel
Creme Guides
Karte
Reset Map