Wir leben in einer Gesellschaft, in der es wenige Dinge gibt, die für die Ordnung der Gesellschaft, Macht und unser Zusammenleben essenzieller sind, als das Geschlecht. Und unser Geschlecht definiert wer wir sind, legt den Grundstein unserer Identität und unseren Platz in der Welt fest. Wer wann und wo Macht besitzt oder nicht, ist eng damit verwoben. Es gibt keinen geschlechtslosen Platz auf dieser Welt. Eine Gesellschaft ohne Geschlecht als strukturierendes Merkmal ist kaum vorstellbar.
Dabei ist es ein interessantes Gedankenexperiment: Eine Welt, in der Geschlecht keine Rolle spielt. Wie funktioniert eine Gesellschaft, wenn sie nicht von dem jahrhundertealten, wenn nicht sogar jahrtausendealten Dualismus von männlich und weiblich, aktiv und passiv geprägt ist? Was passiert, wenn es keine geschlechtsspezifischen Identitäten, Machtkämpfe und Hierarchien mehr geben kann?
Einem Abgesandten der Erde wird in Ursula K. Le Guins Buch „Die linke Hand der Dunkelheit“ auf dem Planeten Gethen schmerzlich bewusst, welche anderen Formen Macht annehmen kann, als er zum Spielball politischer Interessen wird und gezwungen ist, in Begleitung eines Gethenianers durch die Eiswüsten des Planeten zu fliehen. Die Bewohner des Planeten Gethen sind uns Menschen sehr ähnlich - mit einem Unterschied: Sie sind androgyn, und während einer kurzen Phase sexueller Erregbarkeit entscheidet sich, welcher der beiden Partner einer sexuellen Beziehung welches Geschlecht annimmt.
Obwohl in den 1960ern geschrieben, hat „Die linke Hand der Dunkelheit“ nichts an Aktualität eingebüßt. Im Gegenteil: die Debatten der letzten Jahre haben Ursula K. Le Guins Gedankenexperiment vielleicht noch faszinierender und wichtiger gemacht. Der*die Leser*in wird zum Denken angeregt, die Vorstellungskraft wird von Le Guin ebenso herausgefordert, wie die Grundpfeiler unserer Gesellschaft. Ein wunderbares Buch und nicht nur für Science-Fiction Fans ein absolutes Muss!