Veranschlagen wir für diesen flüssig durcherzählten Text im Schnitt zwei Minuten pro Seite, dann haben alle Finisher dieses in jederlei Hinsicht monumentalen Romans 38 1/2 Stunden gelesen. Momente des genüsslichen Sinnierens sind darin noch genauso wenig eingerechnet, wie Freude über intertextuelle Scherze und Nachgrübeln über faktische Wahrhaftigkeit des Erzählten.
Wo andere Autoren einen thematischen Fokus setzen und ihre Recherchen konsumierbar aufbereiten, nimmt es der Norweger Johan Harstad mit nichts weniger als der ganzen Gegenwart auf. Und ja, das gilt auch und erst recht für unsere zersplitterte, von jeglicher Vernunft entkoppelte, irrationale Welt momentan.
Harstad ist Experte in der Frage, wie wir wurden, was wir heute sind. Und dafür sind 1150 Seiten dann doch angemessen. Wenn jemand den Roman als Weltdeutungsinstrument und Denkmaschine wiederbelebt, dann ist es Johan Harstad mit dieser hyperrealistischen Geschichte!
Alles beginnt mit einem fast typischen Anruf im mittleren Alter. Der Atommüll-Experte Ingmar Olsen wird nach 20 Jahren von seinem Jugendfreund Jonatan von einem Containerschiff aus angerufen, sie schwelgen kurz in gemeinsamen Erinnerungen, bevor Jonatan fragt, ob Ingmar ihm bei einer dringenden Aktion in ihrer alten Heimat behilflich sein könnte.
Ingmar zweifelt die Dringlichkeit an, es könnte schließlich alles auch ganz anders sein als Jonathan sich einbildet. Dass er schließlich der Ansicht ist, der chinesische Geheimdienst hat mit der Sache zu tun, erhöht nicht gerade Jonatans Glaubwürdigkeit. Und doch ist da diese Verbindlichkeit zwischen Jugendfreunden, die Ingmar schließlich "na gut" sagen lässt – sie treffen sich in Stavanger.
"Unter dem Pflaster liegt der Strand" ist die Geschichte einer Clique in Forus, einem Vorort Stavangers. Es ist die Geschichte von drei Jungs und einem Mädchen, die die Langeweile der Adoleszenz eint. Harstad erweist sich in diesen Kapiteln als großmeisterlicher Minnesänger der langen Zeit des Wartens und der zahlreichen zeittötenden Ersatztätigkeiten.
Kein Gang durchs Viertel, der nicht gern gelesen würde, keine Kellerstunden, die der Autor nicht außergewöhnlich zu beschreiben im Stande ist. Harstad scheut wirklich kein Detail der zeitlosen Tristesse der Vorstadt. Juhu! Und doch geht es natürlich um viel mehr.
Der zweite große Erzählstrang hat einen mysteriösen Stein zum Gegenstand, dessen Berührung unbeschreibliche Effekte erzeugt, die dem Berührenden sein zukünftiges Leben in zahlreichen Variationen vor Augen treten lässt und die Realität zum Glühen bringt. Das ist ziemlich verrückt, sicher. Es ist sogar kaum zu glauben. Aber es erfasst einen voll und ganz.
Die Erzählwelt des Johan Harstad bringt alle noch so abseitigen Strömungen dieser Geschichte am Ende konsequent zusammen, man muss sich ihr nur hingeben, mit Haut und Haar, wie man so schön sagt. "Sous les pavés, la plage!" skandierten die Pariser 68er, als sie Barrikaden errichteten und unter den Pflastersteinen der Straßen Sand entdeckten.
Unter dem Pflaster liegt der Strand wurde zum Symbol für den Glauben an eine Alternative zur bestehenden Ordnung. Johan Harstad greift diese Parole und diesen Glauben auf und kreiert einen Kosmos, der in seiner erzählerischen Unbändigkeit und gedanklichen Kühnheit seinesgleichen sucht. Diesen Pflasterstein von Buch zu heben bedeutet, Erzählsand zu entdecken: Es könnte auch alles ganz anders sein. Wie befreiend!
Hinweis! Johan Harstad liest am 31.3.2025 in der Buchhandlung Knesebeck 11. Alle Details finden Sie hier >>