Es gibt Romane, deren ästhetische Strahlkraft so blendend ist, dass die zahlreichen anderen Erzählungen neben ihnen nur noch als selbstverliebte Kneipenszenen, nostalgische Jugenderinnerungen oder vergangene Rechthabereien verblassen. Samantha Harveys Roman "Umlaufbahnen" besitzt eine solche Verdrängungskraft. Dieser Roman ist eine Zurechtweisung.
Zwei Frauen und vier Männer schweben auf einer Raumstation durchs All. Um genau zu sein sind es zwei Kosmonauten und vier Astronauten, die sechzehnmal in 24 Stunden die Erde umrunden und denen wir Leserinnen einen Tag folgen. Die Crew versucht sich noch an die irdische Ordnung zu halten und simuliert schlafen, leben, essen wie sie es auf der Erde gewohnt waren und doch sind sie losgelöst von allem. Genauso schnell, wie das Raumschiff die Erde umkreist, fliegen an uns Lesern die existenziellen und philosophischen Fragen vorüber, nicht aufgedrängt, sondern quasi selbstverständlich.
Allein die Konstruktion der "Umlaufbahnen" ist so bestechend für eine Definition von Literatur der Gegenwart, dass all das kleine Erzählen plötzlich sehr durchschnittlich scheint. Zumal es Harvey gelingt, sich nicht von der Monstrosität der Raumfahrttechnik und der universalen Bilder überwölben zu lassen, Harvey lässt noch Raum für die Zwischenmenschlichkeiten der Crewmitglieder und deren Erinnerungen an die Familien auf der Erde.
Die Perspektivverschiebung ins Weltall ist eine kraftvolle Veränderung des Denkens und Fühlens sowohl für die Figuren, als auch für uns Leserinnen und Leser, die wir hiermit eingeladen sind, unser aller täglicher Umlaufbahnen zu hinterfragen.
Und dann wäre da noch das Ereignis der Sprache von Samantha Harvey. Wo uns sprachlich Normalversierten bei den eindrücklichen Bildern aus dem All höchstens noch der Atem stockt, hat die Autorin immer noch eine Idee des eleganten und schönen Ausdrucks des Unbeschreiblichen. Es ist wirklich vollkommen unnötig, einen Bildband neben sich liegen zu haben beim lesen dieses Romans, die zauberhafte Sprache der Autorin schafft es ganz hinlänglich alle Dimensionen zu erfassen.
Sei es der Anblick von Nordlichtern, die Beobachtung eines Taifuns oder das changierende Licht während der ständigen Sonnenauf- und Sonnenuntergänge – Harveys Sprache ist ein Ereignis für sich. Die Brillianz ihrer Worte steht der Eindrücklichkeit des Beobachteten in nichts nach. Das sind Naturbeschreibungen aus einer anderen Dimension, das ist überiridisches Nature Writing.
Was für ein Glück dieses Buch ist! Was für eine schöne Endjahresentdeckung uns die Jury des britischen Booker Prize da beschert hat, indem sie Samantha Harvey für das beste englischsprachige Buch des Jahres ausgezeichnet hat.