Was sind sich die Kritikerinnen herrlich uneinig über diesen Roman! Die einen hatten eine „enorm frustrierende Leseerfahrung“, die anderen sind fasziniert; die einen sehen „die Ruinen des Romans, nachdem Rachel Cusk sich ihn vorgenommen hat“, die anderen haben „staunend und vergnügt“ gelesen.
Hier geht es nicht einfach nur um verschiedene Geschmäcker, über die zu streiten ja landläufig bekannt müßig ist. Nein, hier geht es um Frustrationen ernsthaft literaturkritisch arbeitender Leserinnen. Dieser Roman hat es wirklich so sehr in sich, diese Autorin reizt das Denken so sehr auf, dass der Text auf diese eigenständige Art enorm provokativ genannt werden kann.
Rachel Cusk, die einst in England das Image der meistgehassten Schriftstellerin Großbritanniens verpasst bekam, sich aus dieser Phase ihres Schaffens allerdings längst gelöst hat, ist eine Meisterin des kompromisslosen Formbewusstseins. Mit jedem Buch entwickelt sie ihr Projekt einer künstlerischen Selbsterkundung weiter.
In „Parade“ so weit, dass sie die Subjektivität von Erzählerin und Künstlerin vollständig auflöst. Es gibt keine herkömmlichen Figuren mehr, sehr viele im Buch genannte Künstler heißen einfach G. und kunstgeschichtlich versierte Leser werden Züge von Georg Baselitz, Louise Bourgeois oder Paula Modersohn-Becker erkennen.
Ein solches Entschlüsseln ist eines der faszinierenden Phantasmen dieses bahnbrechenden Romans, ein anderes die atemberaubend wahrnehmungsintensiven Figuren- und Landschaftsbeschreibungen, ein wieder anderes die verschnörkelt verschränkt schönen Langsätze.
Ja, zugegeben, manchesmal hat man am Ende bereits vergessen, was am Anfang stand – und nimmt sich die Freiheit weiterzulesen und anderswo Aufmerksamkeit auf ein formvollendet schönes Detail zu legen. Denn dieser Roman funktioniert wie ein abstraktes Gemälde, ist vielleicht das erste in Literatur übersetzte abstrakte Gemälde der Kunstgeschichte. Die verwirrende Uneindeutigkeit der Wirklichkeit wird hier nicht aufgelöst oder dargestellt, sondern, ganz im Gegenteil, noch weiter vertieft.
Ich habe mich beim Lesen öfter gefragt, wie sich wohl beispielsweise die Leserinnen gefühlt haben, als der Ulysseserschienen ist oder der Mann ohne Eigenschaften. Ähnlich verstört vielleicht aufgrund der unerhörten Neuartigkeit des Erzählens, wie die aufgewühlten Kritikerinnen jetzt gerade bei diesem Roman Parade von Rachel Cusk. An diesem Roman führt in diesem Jahr, in diesem Jahrzehnt, kein Weg vorbei.