In jeder Geschichte steckt ein wahrer Kern. Ein Roman ist auch ein Spiegel der Realität, der Gesellschaft, des Miteinander und des Gegeneinander. Vor allem aber ist ein Buch, die Möglichkeit sich selbst wieder zu finden in den Charakteren, in ihren Beziehungen und Kämpfen und gleichzeitig eine neue Perspektive einzunehmen, Empathie für andere zu entwickeln. Geschichten können Gesellschaften enger zusammenschweißen, solidarischer und offener machen, denn sie lassen Andere plötzlich weniger fremd erscheinen und ihre Schicksale realer.
Geschichten, die nicht erzählt werden und vor allem nicht gehört werden sagen aber mindestens genauso viel über eine Gesellschaft aus, wie die erzählten. Seit 1901 wird der Literaturnobelpreis verliehen. Seitdem haben ihn 16 Frauen erhalten. Die einzige schwarze Autorin, die mit dem Literaturnobelpreis ausgezeichnet wurde, war im Jahr 1933 Toni Morrison. Die Geschichten, Schicksale und Positionen von Frauen, insbesondere von Schwarzen Frauen, finden kaum Platz in literarischen Diskursen und somit auch nicht in den Köpfen der Menschen.
Das ändert sich endlich seit ein paar Jahren. Bernadine Evaristo ist eine dieser Autorinnen, dank denen sich etwas verändert. 2019 wurde sie für ihr achtes Buch „Mädchen, Frau etc.“ mit dem Booker Preis ausgezeichnet. In dem Roman erzählt Evaristo die Geschichten von elf Frauen und einem Transmann. Sie alle sind schwarz und viele lesbisch, kommen aber aus den unterschiedlichsten sozialen Schichten und müssen sich ihren individuellen Kämpfen stellen.
Die Dramatikerin Amma steht kurz vor dem Durchbruch. In ihrer ersten Inszenierung am Londoner National Theatre setzt sie sich mit ihrer Identität als Schwarze, lesbische Frau auseinander. Ihre gute Freundin Shirley hingegen ist nach jahrzehntelanger Arbeit an unterfinanzierten Londoner Schulen ausgebrannt. Carole hat Shirley, ihrer ehemaligen Lehrerin, viel zu verdanken, sie arbeitet inzwischen als erfolgreiche Investmentbankerin. Caroles Mutter Bummi will ebenfalls auf eigenen Füßen stehen und gründet eine Reinigungsfirma. Sie ist in Nigeria in armen Verhältnissen aufgewachsen und hat ihrer Tochter Carole aus guten Gründen einen englischen Vornamen gegeben.
Wir lernen die Hauptcharaktere und ihre Positionen aus ihrer jeweiligen eigenen Perspektive kennen, treffen sie aber auch immer wieder als Nebenfiguren. Eindrücke, Meinungen, Sympathien werden konstant hinterfragt und müssen neu justiert werden. Das ist nicht nur narrativ, sondern auch literarisch äußerst spannend.
Bernadine Evaristos Charaktere sind Teil eines bunten Kaleidoskops einer komplexen, modernen Gesellschaft. Sie verhandeln die Themen unserer Zeit Rassismus, Sexismus, Social Media mal mit tiefem Ernst, mal voll heiterer Komik und Ironie. Es sind die feinen Nuancen, die tiefe Ambivalenz der Charaktere und ihre Komplexität, die sie so real machen. Trotz schwerer Themen bleibt „Mädchen, Frau, etc.“ ein hoffnungsfroher Roman, dessen Herz Mitgefühl und Empathie sind und davon kann die Welt gar nicht genug bekommen.