Komik, Tragik und Schock, alles Wesentliche auf 170 Seiten. – Dass das literarische Lesen mehr ist als das Nachvollziehen einer Story, führt Herbert Clyde Lewis aufs vortrefflichste vor: Das Geschehen seines kurzen Romans ist bereits im Titel ausgeplaudert: Gentleman über Bord.
Der Börsenmakler Henry Preston Standish macht eine Überfahrt auf der Arabella und geht über Bord. Ob Suizid oder nicht, diskutiert auch die Gesellschaft auf dem Schiff, nachdem sie das Verschwinden Standishs (recht spät) bemerkt hat. Nur trägt diese Unterscheidung nichts zur Verbesserung von dessen Situation bei, denn die Arabella wird für Standish immer unerreichbarer. Zunächst richtet er sich in der schockierend plötzlichen Situation ein, überlegt, was er von sich werfen, was lieber anbehalten könnte ohne vor Scham einzugehen bei der Rückkehr an Bord, denn "das Anstandsgefühl eines Mannes war genauso wichtig wie sein Leben."
Hoffnungsvoll ist Standish, obwohl die Arabella am Horizont immer kleiner wird. Klar denkt er an das Ertrinken, aber hegt eben auch eine Sehnsucht nach einer Zigarre und einem Whisky. Um sich vor der Sonne zu schützen und bei klarem Verstand zu bleiben, legt er sich seine Socken auf den Kopf. Allein dieses Bild! Da muss man doch mal innehalten und genießen. "Nichts ist komischer als das Unglück" hat Samuel Beckett gewusst, und Lewis beherrscht die Fähigkeit Komik gleichberechtigt neben Tragik stehen zu lassen ebenso wie dieser.
Doch bei aller eigenartigen Witzigkeit, die Lewis dieser Situation abtrotzt - und genau darin besteht das Außergewöhnliche an diesem Buch -, liegt in der Anordnung der Geschichte naturgemäß eine ziemlich ernsthafte Auseinandersetzung mit dem Tod. Lewis ist ein Meister im Aufspüren subtiler Veränderungen der Atmosphäre der Geschichte. Die Hoffnung weicht Panik, Wut und Verlassenheit. Zunächst fühlt sich Standish pudelwohl in seiner Situation, überlegt sich euphorisch wie er seine Geschichte den anderen erzählen wird. Nur das die Blicke der anderen sich eben immer weiter entfernen, die Arabella am Horizont verschwindet.
"Gentleman über Bord" scheint niemanden kalt zu lassen. So unterschiedliche Leserinnen und Leser wie Elke Heidenreich, Campino oder Sebastian Guggolz haben intensivste Leseerfahrungen mit diesem Roman gemacht. Lassen Sie sich das nicht entgehen! Dieser Roman ist eine existentielle Wucht!
Der mare-Verlag präsentiert diese Klassiker-Wiederentdeckung als wirklich außerordentlich schönes Buch: Einen geprägten Leineneinband im Schuber, fadengeheftet und mit Lesebändchen versehen. Dazu ein ausführliches Nachwort über den bis dato völlig unbekannten Autor Herbert Clyde Lewis - alles in allem ein Buchgesamtkunstwerk.