Anstatt der Lektüre dieses Buches könnten wir uns auch einen Tag in Friedrichshain gönnen: Mit Noise-Cancelling-Kopfhörern vor unseren Computern im Café arbeiten, Fotos auf Instagram posten, abends durch Galerien und Bars ziehen und nebenbei an der Perfektion der uns umgebenden Dinge arbeiten. Hygge, Style und Beiläufigkeit. Von der Kleidung bis hin zur Einrichtung alles durchkuratieren, das Leben perfekt inszenieren.
Ein jeder kennt sicherlich diese Szene, hat schon einmal einen Blick darauf geworfen, ist in Cafés diesen Arbeitenden mit ihren egoman konzentrierten Blicken begegnet. Doch wir Normalschauenden könnten nach einem Friedrichshain-Tag diese Szene nicht so genau beschreiben wie Vincenzo Latronico in seinem Roman Die Perfektionen.
Er beobachtet und beschreibt so präzise, dass es eine große Freude ist beim Lesen. Immer wieder habe ich die schwingenden Formulierungen unterstrichen. Sollten Sie sich diesen Roman hier in der Knesebeck Elf holen, bekommen Sie als unmissverständliche Ergänzung zwingend einen Bleistift dazu. Denn auch wenn das Beschriebene im Grunde banal ist, so macht das Lesen gerade wegen der absolut treffenden und unkonventionellen Formulierungen Vergnügen. Da ist lesen wie an der Straße stehen und glotzen.
Wir schauen auf Anna und Tom, zwei italienische Expats, die in Berlin ihr freies Leben aufbauen wollen: Helle Altbauwohnung voller Pflanzen, Leidenschaft für hochwertiges internationales Essen und politische wie sexuelle Offenheit – alles wird bis zur Perfektion durchlebt, inszeniert, fotografiert und dokumentiert.
„In Berlin lebten Anna und Tom in jeder Hinsicht in einer Blase, die kleiner und abgesonderter war als die, die sie sich in den sozialen Netzwerken schufen. In gewissem Sinne hatten sie sich radikalisiert. Sie sprachen ein wackeliges Englisch mit anderen, deren Muttersprache ebenfalls eine andere war. Sie lebten in einer Welt, in der alle eine Line Koks annahmen, aber niemand Arzt oder Konditor oder Taxifahrer oder Mittelschullehrer war. Sie zogen ausschließlich durch Wohnungen voller Pflanzen und durch Cafés mit einwandfreiem WLAN. Auf lange Sicht kam man zu dem unvermeidlichen Schluss, dass es nichts anderes gab.“
Doch mit der Zeit macht sich eigenartige Unzufriedenheit breit, das Leben als Inneneinrichtung ist zwar noch perfekt abgebildet, doch die Perfektion beginnt rissig zu werden, die abgeschottete Welt dringt in das inszenierte Leben hinein.
Latronico lässt uns in eine Welt blicken, die überall zu sehen ist, jedoch noch nie so kompakt beschrieben wurde. „Die Perfektionen“ ist ein Mix aus soziologischer Studie, Vermessung einer Szene, Auslotung von Gewohnheiten und gemeinsamen Bezugsgrößen, von all diesen Einzelheiten, aus denen sich das Leben zusammensetzt – kurzum ein Roman in Perfektion.